„… er sah nach Thüringen, welches er jetzt hinter sich ließ, mit der seltsamen Ahndung hinüber, als werde er nach langen Wanderungen von der Weltgegend her, nach welcher sie jetzt reisten, in sein Vaterland zurückkommen, und als reise er daher diesem eigentlich zu.“ (Novalis, Ofterdingen)
„Ja, sagt ich“, komm nur her, du getreues Instrument! Unser Reich ist nicht von dieser Welt!“ (Eichendorff, Taugenichts)
Tag 1, 08.04.2015, Mittwoch, Hamm, gutes Wetter
[Tine] Jetzt fahren wir also wirklich los. Ein Jahr lang durch Europa mit unserem Bus Michel, der Hündin Motte, unseren Instrumenten und ganz wenig Geld, was wir über ein Jahr lang vorbereitet haben, wird jetzt Wirklichkeit. Ein bisschen aufgeregt sind wir doch.
Nachdem wir uns von unserem Lieblings-Schrauber Metti noch verabschieden konnten und wir ein schönes After-Abschiedsparty-Frühstück bei Leana und Gerda hatten, steigen wir in den Michel ein. Kilometerstand 397 800. Wer jetzt denkt, das wäre viel, kennt den guten OM 314 Motor nicht. Der schafft problemlos 1 000 000km.
Da wir keine Lust haben, mit unserem langsamen Opa-Bus über Autobahnen zu fahren, geben wir in unseren Navi ein, dass er uns schöne Routen raussuchen und auf jeden Fall Autobahnen vermeiden soll. So bekommen wir mehr von der Umgebung mit und haben weniger Stress mit LKW, die uns überholen.
Zuerst soll es nach Husum gehen, wo mein Sohn bei seinem Vater wohnt, und den ich gerne noch besuchen möchte, bevor es dann richtig los geht.
Unser erstes Zwischenziel soll Celle sein. Als wir abends ankommen, quatscht uns an der Tankstelle jemand an. Er findet unseren Bus toll, wohnt selbst mit seiner Freundin in so einem. Außerdem betreiben die beiden ein veganes Café namens „veg-ruf“. Martina und Malte beschreiben uns den Weg zu ihrem Stellplatz und wir verabschieden uns.
Wir finden die beiden nicht, aber einen Stellplatz, ein paar Meter weiter wie sich später rausstellt.
Zusammen mit Hündin Motte erkunden wir Celle und schauen, ob und wo wir hier Straßenmusik machen können. Celle hat eine tolle, schnuckelige Altstadt, urige, alte Gebäude und ein Schloss mitten in der Altstadt. Und einen tollen Park.
[D] Die Entscheidung zum Führen eines, sagen wir „historisch-lyrischen“ Reisetagebuchs, erscheint nun, nach einem Monat heraus gezögertem Ansinnen, gerade im Lichte dessen, was meine Frau an Informationen und Wichtigkeiten vermittelt, schlussrichtig, und lässt mich hier das Folgende antipodisch, ergänzend oder auch in anderer Wahrnehmung und Reflexion niederschreiben, wie es meine innere und äußere Wahrnehmung in rein Dichterisches verwandelt hat, zur Beseelung Eurer Herzen und mir und Tine zum romantischen oder rührenden Genuss und Schmunzeln, Lachen oder Weinen, letztlich aber auch zur Rettung der Sprache und Dichtung im klassischen Reisebericht, den es leider nicht mehr gibt, und den ich hier beimische, und damit folgerichtig und mit großem Nachdruck, meinen ersten Satz beende.
Also obliegt es mir nun, einen ersten Rückblick zu wagen. Beseelt von den Erinnerungen und Empfindungen in meinem Leib, merke ich wiederholt in meinem Leben, dass es ja keine Wahrheit gibt, was aufzuzeigen der Vergleich unserer beider Eintragungen ein Leichtes sein wird, liegt sie doch in den Falten des Vorhangs verborgen, der in unser Innerstes fällt und die Tage entströmen unseren Lippen als Zeugnisse unserer Einfalt und Demut vor der Natur, die uns erschaffen hat, um durch uns zu sprechen. Eine Odyssee.
Tag 2, 09.04.2015, Donnerstag, Celle, schweineheiß fürn Frühling
[Tine] So. Straßenmusik also. Noch zehren wir von all dem geschenkten Spritgeld, aber allzu lange hält das nicht mehr vor. Der Plan, auf dieser Tour von Dominiques winzig kleiner Rente zu leben, aber den Sprit komplett mit Straßenmusik zu verdienen, wird immer realer. Also los.
Noch sind wir sehr zurückhaltend, spielen an Stellen, an denen wir bloß niemanden stören – und nicht zu lange. Wir spielen zwei Sets je 20 Minuten und verdienen ganze 6€, na, das ist ja schon mal ein Anfang!
Weil wir noch genug Spritgeld bis Husum haben, brechen wir direkt unsere Prinzipien und ziehen zum „veg-ruf“, um das Geld direkt umzusetzen. Das leckere Brötchen mit „Fleisch“-Salat und die heiße Schokolade bekommen wir dann allerdings doch spendiert. Außerdem bekommen wir von Martina und Malte noch ein paar Stellplatztipps für Husum. Hier die Internet-Adresse der beiden: www.veg-ruf.de … Wer mal in Celle ist, sollte dort unbedingt mal reinschneien und gern auch von uns grüßen.
Nachmittags fahren wir weiter und genießen die Veränderung der Landschaft. Wir finden einen tollen Wohnmobilstellplatz an der Eider, einem Fluss, der in die Nordsee mündet und an der Stelle Gezeiten hat. Und Unmengen von Wasservögeln. Als wir ankommen ist Ebbe, die Vögel suchen im Schlick nach Essbarem und fliegen immer wieder als Schwärme unter lautem Getöse auf.
[D] — Das Scheitern der Ideale und Utopien der Menschen ist seit jeher vorherbestimmt und so auch unserer. – Ich erinnere: als Veganer (Tine vielmehr als Vegetarierin) und Asket von meiner kleinen Rente lebend und durch Straßenmusik unsere Fahrtkosten erspielend durch Europa zu reisen, dabei die großen Städte zu meiden, und wohlfeil Land und Leute gewissermaßen inwendig kennenzulernen, außerdem von der Natur zu leben, zumindest additiv, soll heißen durch Kräuter, Früchte und Pilze sammeln – war das Ziel, das hehre. Zunächst ließ sich das auch gut an. Da, wo für Tine das Praktische, Pragmatische , z.B. der Michel, die Wissenschaften usw. das Fundament bildete, da sollte mir das Erlernen von Volksliedern von den Lippen Eingeborener und das fundamentale Studium der Dichtung Ansporn sein. – Der Start fiel leicht. Freunde hatten uns mit Präsentkörben und etwas Geld für Diesel ausgestattet, unsere Vorratskiste strotzte vor Fülle und Üppigkeit, der Wassertank und alle Flaschen versprachen Überfluss, der Strom, also das Aufladen der Bordbatterie über die Lichtmaschine während des Fahrens, war gesichert, der Michel strotzte gleich unserer Hündin „Motte“ vor Tatendrang. In Deutschland hatten wir noch Internet und Telefonie, die Kommunikation war also gesichert, und die ersten Reiseziele standen fest. – Inmitten dieser festen Burg aus gesundem, mittelständischem Deutschtum führte uns das vertraute Antlitz des Navigationssystems grob in Richtung Husum, also nach Norden zum Meer hin, zur grandiosen Nordsee und damit tief ins warme große Herz des häufig als Heimatdichter verkannten, großartigen Theodor Storms hinein. Der Weg dorthin sollte, und das galt für all unsere Wege aus der Gegenwart heraus, durch etwas geläutert werden, das der Navi programmatisch etwas platt und pauschal „Schöne Route“ nannte, und da wir jedwede Autobahnen und Schnellstraßen meiden würden und gerne mit sechzig Kilometer per Michel die Veränderung der Landschaft und Architektur quasi erfahren, erleben mochten, hatten wir beide uns eine Route durch die Heimat Löns, der wiederum einen ganz eindeutigen Heimatdichter darstellte, durch die Lüneburger Heide also erwählt, mit einem Halt und einer Einkehr in der Stadt Celle, die uns von Tines Mutter verheißen worden war. Sintemal sie auserkoren war, unser Einstieg in den Beruf des Straßenmusikanten zu sein. – – Das Wetter war erstaunlich gut, zu diesem Zeitpunkt noch etwas kühl, aber ohne Niederschlag und nahezu regenfrei sollte es bleiben, die zwei kräftigen Ergüsse der letzten Tage hatten ihr Übriges bewirkt und den kühlen Vorfrühling in ein liebliches, gleichermaßen tosendes Farbenmeer verzaubert, das uns lau und warm kitzelnd den Sommer anempfahl, auf den alles mit frohem Mute zusteuerte. Zu Beginn unserer Reise, während derer wir Zug um Zug von Autos überholt wurden, die teilweise doppelt so schnell fuhren wie wir, trödelten wir über die Lande und gewahrten das Ausdehnen der Felder und Wälder, der Weiden und Seen und das Zurückweichen der großen Städte zugunsten kleinerer Dörfer und das Verschwinden der Industriegebiete, die bei uns im Ruhrgebiet Königreichen gleichen, mit ihren Türmen und Schloten und Palästen aus zu viel leblosem Grau. – Nicht aber hier! indes wir uns fortbewegten, hin zur Heide und durch ebendiese schmucken Dörfer, sauber und gesund, der Genuss nur geschmälert durch die deutsche Gründlichkeit mit der Wohlstandssiedlungen auch hier entstehen; gleichgeschaltete Mittelmäßigkeit im genormten Baustil der Einfamilienhäuser, alle mit ihren Garagen und zwei Mittelklassewagen und Garten und Rutsche, Schaukel für die beiden Kinder. Alles gleich – in ganz Deutschland. Das ist schade, nein, eigentlich ist es ein Trauerspiel und war das erste, das wir nicht vermissen sollten, als wir zwei Wochen später Deutschland verließen – in die Fremde! – – Wir alle drei, vielleicht sogar der Michel atmeten auf und konnten schauen über das kultivierte Land hinweg, an trauten Kirchtürmen vorbei, bis zu vorsichtig und blinzelnd uns entgegen schimmernden Waldrändern, die zunehmend als knorriges Nadelgehölz dort harrten und an Tiefe gewannen und im Norden dann ausdünnten und schließlich verschwanden, einen wehen Nachklang in unseren Herzen hinterlassend. Nichts würden wir mit größerem Überschwang in unseren Gemütern wieder erklingen lassen als den Wald, unser Karfunkel! Indes hier, ganz leicht auf den Armen wahrnehmbar, der Wind zunahm, das zähe Gebüsch und das gelbe Gras stemmten sich gleichmütig dagegen; das Land war karger jetzt und rauer, auf Sand gewachsen, der unsere Füße umflorte und uns seiner Allgegenwart versicherte, der wir nun entgegenfuhren.
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Celle im Rücken, der Tank wieder gefüllt, gestärkt folgten wir dem Sand weiter nach Norden, unserem eigentlichen ersten Ziel entgegen. Die deutschen Landstraßen zogen sich sauber und gut gebaut durch das weiterhin zunehmend mager werdende Land, wir kamen bedächtig tuckernd, dennoch gut, voran. – Der Baumbestand dünnte aus und wurde sukzessive von Heide übernommen, struppiges Gras, unebenes, mooriges Gelände, Weiden, Tümpel, Parzellen, nachlässig mit morschen Latten schemenhaft eingezäunt und – ferner- wüste, zornig uns nachblickende Kopfweiden. Der Frühling tat sich hier noch schwer, wir fühlten noch den Winter in unseren morgendlichen Körpern, das Kleine, die Kräuter und Blümchen, die Pilze fanden noch keinen Platz in unserem Sinnen. Überraschend tönten, vielleicht übermütig, die ersten Möwen über uns, kreisend. Und dann, ein, zwei Rasten später, gesellte sich zu der Luft, die meine Lippen überwand, in meinen Mund hinein und von da tief in mein Innerstes, das Salz – vom Meer her. Irgendwo vor uns, ganz nah, da musste sie wohnen, unruhig und schwarz, so erinnerte ich sie, glänzend und dann wieder stumpf – mit dem Salz nun alle Erinnerung an sie in mir wachrüttelnd, die Nordsee. die beflügelnde, das große Wesen. – Tine hatte alsdann einen Stellplatz in Lunden an uns empfohlen, dem wir uns zielstrebig zuwandten und freudig gewahrten wir, dass dieser weit draußen in der Knüste lag. Mitten im weiten Nordfriesland, hinter Schafen, die auf großem Fuß lebten, und verschwenderisch auf die Lande hingetupfte Kühe und Rinder, hier noch verdeckt durch einen auf dem Bauch liegenden Lindwurm, dem Deich. Da strandeten wir spät und im Dunkeln am Lundener Stellplatz, winzig und sandig, gelegen an der verträumten Eider. Nach einem kleinen Spaziergang auf der Binnenseite ohne viel zu sehen, schliefen wir eingebettet in ein unheimliches, maschinenhaftes Tosen, welches uns durch den Schlaf zum Morgen führte. Wir drei gingen durch eine Absperrung und schwiegen. Die Eider unterlag hier den Gezeiten und wir stießen jetzt auf sie, in der Ebbe, so dass sich uns die Nordsee in diesem Flusse als Sinnbild, in ihrer ganzen Schönheit präsentierte. Wie silberne Tränen leckten die salzigen Rinnsale durch das klitschige Watt, eine weite Fläche glitzernden Silberbrauns, das die Netzhaut empfindlich kitzelte, beruhigend aber im strengen Nordwind bebendes Riedgras, überdacht von einem grauen, monumentalen Vorfrühlingshimmel. Ein Schauspiel. Doch wie eine Kulisse, oder besser, was für eine Kulisse! für die Vogelvölker, die hier ungestört ihr Dasein feiern durften, in völligem Einklang mit allem. So auch ich. Das nächtliche Getöse enttarnte sich im Morgenlicht als mächtiger Schwarm schwarzweißer Austernfischer. – Aus der Nähe in einzelne, keckernde Stimmen zerfallend, präsentierte sich der ganze Schwarm als kräftiges, furchteinflößendes Organ. Ein im Wind treibendes, mit dem Wind flanierendes, an seinen Rändern ausgefranzt flatterndes Tuch aus Austernfischern über den Watten. Überall wimmelte es oder ruhte, aber lebte und pulsierte der Schlick, dessen reich gedeckter Tisch den possierlichen Eiderenten, eleganten Grau- und majestätischen Nonnengänsen genügten. – Am Ufer die Kormorane, die Flügel fächernd zum Trocknen. Mir stockte der Atem und ehrfürchtig stand ich lange da, durchgerüttelt vom scharfen Winde, die Böen, in die man sich nachgerade legen konnte, trugen mich vom Deiche und stützten mich. Diese Szenerie gehörte uns. Wiederzukehren versprachen wir einander Abschied nehmend. Tine war erfüllt von der Aufregung, die sie nun nach Husum trieb, dem Kinde entgegen, dem sie dann die verschwenderische Schönheit der Eider bei Lunden nicht vorenthalten wollte. Mit der Flut lösten wir uns schmatzend aus dem Klei und fuhren fürbass.
Tag 3, Freitag, 10.04.2015, an der Eider
[Tine] Auf nach Husum! Wir kommen mittags an und holen meinen Sohn Thorin ab, der uns einen Parkplatz zeigt, der direkt bei ihm um die Ecke ist. Danach zeigt er uns Husum, den Schlosspark, der im Frühjahr wohl immer voller Krokusse ist, jetzt sind noch immer welche da, den Marktplatz mit dem Brunnen und der Skulptur namens „Tine“, eine junge Fischersfrau mit einem Ruder in der Hand, und den Hafen. Wir entdecken ein Antiquariat und Dominique kauft sich noch zwei fehlende Reclam-Bücher. Thorin zeigt uns noch seine Schule, dann geht es zurück zum Bus, Abendessen, bla.
[D] Unter den Reetdächern hervor, die, uns fremd aber im Gemüte wohltuend, auf den kleinen, schmucken Häuschen mit ihren bürgerlich gepflegten Vorgärten hockten und zwischen denen Thorins neues Zuhause wie eine Enklave biedermeierlicher Unbedarftheit, leicht lieblos, in ahnungsloser Einfalt, vor den Toren der Altstadt lag, erschien das Kind alsdann und führte uns einem graukaltem aber kostenlosen Großparkplatz zu, der nahezu leerstand unter einem riesigen stillgelegten Windrad, das als Phallus flügellos in den Himmel ragte. Ein paar Zigeunerwohnwagen harrten an seiner hinteren Grasnarbe, denen wir uns räumlich zutaten. Nun aber durften wir, in den folgenden Tagen, die Schönheit Husums absorbieren. Die zwar touristisch vollkommen erschlossene Altstadt mit dem Tine Denkmal (ein durchaus witziger Moment), dem sich mit den Gezeiten bewegenden Hafenbecken (wie seltsam einen kleinen Kutter im Schlick strandend zu sehen, vertrauend auf die Flut), dem Theodor-Storm-Haus hatte trotz allen Fortschritts ihren Charme einigermaßen bewahrt und bot uns die Gelegenheit, unseren ersten lukrativen Einsatz als Straßenmusikanten wahrzunehmen. Dankbar nahmen wir diesen kleinen Schatz entgegen und pflanzten ihn als Mut in unsere Herzen.
Tag 4, 11.04.2015, Samstag, Husum, schönes Wetter
[Tine] Die Nacht auf dem Parkplatz war bis auf Streitereien einiger Nachbarn ruhig. Nach dem Gassigang ziehen wir mit den Fahrrädern in die Altstadt, um Straßenmusik zu machen. Es ist Markt und es sind viele Menschen auf den Beinen. Wir spielen ein paar Sets, Thorin kommt auch dazu. Es läuft gut. 3 Sets je 30 Minuten, insgesamt 40€, nicht schlecht für das zweite Mal, wir sind zufrieden.
Ein freakiger Typ mit langem, grauem Bart verkauft Drachen-Ochos und erzählt, dass es ganz oft Straßenmusiker in Husum gibt und dass wir mit Abstand die besten sind, die er bisher gehört hat. Na, das geht doch runter wie Öl!
Den Rest des Tages widmen wir Thorin.
[D] Ach überhaupt! Nach und nach trug die Reise Früchte, auch wenn mir hier in Husum eine schwere Erschütterung bevorstehen sollte. Mir wurde nachhaltig klassisch zumute, mein Geist stand weit offen vor der Kunst und sie ließ sich das nicht zweimal sagen. Tine und ich hatten begonnen intensiv NDR 3, also Klassikradio zu hören, das uns hier im Norden mit Händel bekanntmachte, den wir gerne kennenlernten. Rilkes „Neue Gedichte“ und immer wieder Hölderlins Elegien bestürmten mein Innerstes, auch während ich als Handwerker der Dichtkunst an meinem eigenen Material unermüdlich feilte. – Und nun, hier in Husum, natürlich, las ich den „Schimmelreiter“ und dann „Aquis Submersus“ und da hatte er mich. Willkommen war er mir im stillen und ehrwürdigen Rund meiner Reisegefährten, Novalis, Rilke, Hölderlin, George, Celan, Raabe und Stifter, die Droste und die Sagen des klassischen Altertums neben der Geschichte der deutschen Lyrik und der kleinen deutschen Versschule. Hier tat sich mir die Reise als Werkstatt des Geistes auf. Zaudernd und schauernd saß ich da vor meiner Reclam Universalbibliothek und konnte dieses Geschenk kaum fassen. Etwas erwies sich jedoch als letzter Prüfstein, den ich meinte, bewältigen zu müssen, und an diesem „Müssen“ ich demnach kläglich scheiterte. Falsche Tat!
Tag 5, Sonntag, 12.04.2015, Husum
[Tine] Heute radeln wir mit Thorin und Motte zum Husumer Strand, es ist Ebbe und Motte wird es nicht müde, den Gummiball aus dem Schlick zu holen. Motte wird zum Matschhund.
Gegen Spätnachmittag fahren wir mit Thorin an die Eider, um Thorin die Wasservögel zu zeigen. Und es soll eine besondere letzte Nacht sein, bevor wir weiterfahren, deshalb darf Thorin mit im Michel schlafen.
Es ist windig. Wir sitzen mit dem Fernglas im Cockpit und beobachten die Vögel, versuchen sie zu unterscheiden und zu bestimmen. Beim Abendspaziergang findet Thorin im Wasser eine tote Gans und startet eine Bergungsaktion mit einem Stock, um sie besser sehen zu können. Später finde ich heraus, dass es eine Nonnengans war.
Wir sehen aber auch lebende Nonnengänse, verschiedene andere Gänse, Austernfischer, Kormorane, Eiderenten, andere Enten und verschiedene Möwen.
Abends gucken wir auf dem Laptop einen Film. Der Wind wird zum Sturm. Dominique und Thorin schlafen ein. Ich nicht. Der Michel schwankt sehr und der Wind ist extrem laut. Ich liege direkt an der noch immer ein bisschen undichten Hecktür, die zwar mit Decken verhangen ist, aber einen so scharfen Wind dann doch durchlässt. Eine schlaflose Nacht für mich.
[D] Was ich überwunden glaubte, meine wenigstens zum Teil als bewältigte, von obsessiven Gedanken überschattete Vergangenheit nämlich, erwischte mich verwundbar und schutzlos; hiermit verdarb ich alles.- Die Fahrt mit dem Fahrrade ans Meer, dort die Schlammschlacht mit dem Hunde und der zweite Besuch der Eider, diesmal bei eigentlich faszinierender Flut, der Schlosspark mit seiner mysteriösen Krokusflut und alles. Die Abschiedsnacht mit Thorin bei uns im Michel, einschließlich des Filmeabends; all das erfüllte mich mit Grauen, machte mir Magengrimmen und mich würgen. – Tine musste sich wohl ebenfalls in einem Alptraum wähnen, indes ihr Abschied von Thorin zu einem tränenreichen wurde, einem verlustreichen, einem Abschied eben – von ihrem kleinen Sohn, der nun in den Abgründen des Spießbürgertums seine Metamorphose zu vollziehen gedachte, ihm angemessen und mit großer Freude. Ich aber hatte kein Gefühl und keinen Arm für meine Frau, kein Wort. Hilflos, verletzt, in tiefes, dumpfes Schweigen gehüllt verließen wir dieses an durchwirbelten Gefühlen reiche Husum. Gen Osten. Hinüber nach Wismar und damit zur Ostsee, der lieblichen Schwester des sich in den Mond stürzenden Haffs im Norden.
Tag 6, Montag, 13.04.2015, immer noch windig
[Tine] Morgenspaziergang mit Flut. Frühstück. Zurück nach Husum. Abschied von Thorin. Doof. Traurig.
Der Rest des Tages besteht aus einer traurigen und übermüdeten Tine, einem Dominique, der mit seinen Gefühlen kämpft und dem Versuch, irgendwie wieder klar zu kommen.
Wir fahren auf dem Weg zur Mecklenburger Seenplatte, wo wir zu einer Werkstatt wollen, die sich auf Busse wie unseren Michel spezialisiert hat, erst mal in Richtung Ostsee. Dort wollen wir versuchen, in Wismar Straßenmusik zu machen. Die Suche nach einem Stellplatz führt uns nach Lübsee, tolle Gegend hier, Mecklenburg-Vorpommern, Nordwest.
Wir finden einen Stellplatz am Fuß einer Kirche, leider sehr nah an einer Autobahn.
Tag 7, Dienstag, 14.04.2015
[Tine] Beim Morgenspaziergang habe ich eine Begegnung mit einem Sperber. Er fliegt mich an und zieht erst im letzten Moment hoch. Puh, ich hab mich ziemlich erschrocken. Warum tut er das?
Nach dem Frühstück erledige ich die Steuererklärung zu Ende und wir besichtigen den Friedhof.
Die Autobahn nervt, wir beschließen weiter zu fahren. Nur ein paar Dörfer.
Wir landen ganz zufällig in Kussow. Dominique geht allein mit Motte spazieren und entdeckt die Kussower Hutung und schwärmt bei seiner Rückkehr davon.
Abends hören wir richtig viele Kraniche.
[D] Vorbei an Marschen und Soden, die mächtigen Deiche mit den Schafen auf den Rücken liegen lassend, an Wehlen vorüber, die Dämme entlang und an Geesten, Strandwelken, Pull, Fennen, war das der Hauke-Haien-Koog da drüben?, zurück ins Land, gen Osten, Richtung Wismar, dahin zog es mich, einer Ahndung nach mit unverwandter Sicherheit. Und nun, als der Frühling in die Kiebitze stob und die Sperlinge wie Rauch im Waschblau des Himmels hingen, wo das Land es dem Meere gleichtut und sich als Moränen in die Endlosigkeit wellt, da hielt sie mir, im Geläut der Eichelhäher zwischen den Kopfweiden auf der alten ostdeutschen Plattenstraße, in Nordwestmecklenburg, an der Kussower Hutung, wo uns ein Zufall, ein leiser Ruf hingeführt hatte, nahe des Steinzeitdorfes, das sie entdeckt hatte, dort also, bei den Undingern des Ostens, bei den Kraninchen, den Wundersamen, den großen Trompetern, den betörenden Kranichen, zurück in den Wald, endlich zurück im Wald, zwischen Kiefern und Tannen, auf Sand und immer auf Sand, mit starken, karamellierten Ackergäulen, mit Schafen und Lämmern und Hühnern und manchmal mit Schweinen bedacht, zwischen Himmel und Erde und großen einsamen Seen und winzigen Dörfern, da also, in dieser zeitlosen Verwunschenheit, da heilten wir einander und sie hielt mir ihr schimmerndes Antlitz entgegen und wir erkannten einander wieder mit salzenen Lippen … Frau und Mann.
Tag 8, Mittwoch, 15.04.2015, Bombenwetter
[Tine] Kilometerstand 398700 900km bisher gefahren
Wir beschließen gemeinsam, weniger Zucker zu essen, haben das Gefühl, dass uns das von innen her verklebt, vor allem das Gehirn.
Die Kussower Hutung ist ne Wucht. Bis ins 17.Jahrhundert hinein war dort noch Urwald, in dem sogar Wölfe lebten. Weil Holzdiebe hier ihr Unwesen trieben, beschloss der damalige Besitzer der Ländereien, dort einen Hof zu errichten mit Acker, Weideland und Obstgarten. Das Ganze ist inzwischen verfallen und die Natur erobert alles zurück. Wir beobachten Kraniche, sammeln Knoblauchrauke, Scharbockskraut und Waldmeister. Der Bus riecht lecker.
Hier bleiben wir noch eine Nacht.
Uns fällt auf, dass wir noch gar keine Fotos für den Blog gemacht haben. Das soll sich jetzt ändern.
[D]
des Schlafs sich zu erwehren.
Wer sich dem Schlaf ergibt,
kommt nie zu Gut und Ehren.
(Giebellied des Kranichhauses in Otterndorf)
Sieht man im Stein alsdann die Reise und im Schlaf indes jenes Erstarren in der bürgerlich-kapitalistischen Monotonie, die uns selbst ja ein Leben lang immer wieder gefangen hielt, dann sind Gut und Ehre doch sicherlich die Erfahrungen und Eindrücke, das Potential der Reise; hiermit mögen wir nun der Kranich selbst sein, Erkunder von Welten, tierhaftes Volk, natürliche Wesen.
Tag 9, Donnerstag, 16.04.2015, sonnig, kalter Wind
[Tine] Beim Morgengang entdecken wir einen brütenden Kranich. Wir denken zuerst, es sei ein großer Stein. Zum Glück lässt er sich von uns nicht stören, sodass wir an dem Tümpel, an dem er hockt, in gebührendem Abstand vorbei gehen können. Motte bemerkt ihn nicht. Gut so!
Dann brechen wir in Kussow unsere Zelte ab und ziehen los nach Wismar, um Straßenmusik zu machen. Ich blöde Kuh vergesse mein Kolophonium und den Sägengriff, also sehen wir uns nur die Stadt an, die Einkaufsstraße, den Marktplatz mit dem alten Wasserteil, hab nicht ganz verstanden, was es ist. Eine Art Brunnen vielleicht? Wir entdecken das Wassertor, das das einzige noch erhaltene Stadttor ist und zum alten Hafen führt, den alten Hafen mit den Ausflugsschiffen, ein altes Segelschiff und wir entdecken ein Antiquariat und eine Art Pilzbüro mit Ausstellung.
Das Antiquariat „Schusterjunge“ gehört einer witzigen Rothaarigen und ist ganz winzig, jeder kleiner Winkel ist mit Bücherregalen verbaut und kein Eckchen ist ungenutzt. Bücher stapeln sich auch auf dem Boden und auf den beiden Sesseln. Auch in den Regalen selbst ist kein Spalt mehr frei. Und trotz der Enge und den vielen alten Büchern wirkt der Laden absolut nicht alt und verstaubt. Alles ist immer in Bewegung, Bücher werden verkauft, neue Bücher kommen nach. Die Antiquarin macht Musik an, Jazz. Sehr guter sogar. „Trialogue“ heißt die Scheibe wohl, von Wesseltoft & Schwarz & Berglund. Während Dominique ganz in seinem Element abtaucht, schnappe ich mir ein Buch mit Sponti-Sprüchen, sehr witzig und viele davon hab ich lange nicht gehört. Leider bin ich nicht so gut im Auswendiglernen, sonst würd ich hier jetzt ein paar zum Besten geben.
Dominique entscheidet sich endlich für zwei, drei der vielen gefunden Bücher und ich suche mir noch ein Buch mit irischen Elfenmärchen aus, dann gehen wir zum „Steinpilz“, der in der gleichen Straße zu finden ist. Das ist ein mykologisches Info-Zentrum und wir lernen jede Menge über Pilze, die wir noch nicht kannten, über solche, die wir dachten, schon gut zu kennen, über das Klima in Weimar und über die Geschichte der Pilzkunde in der DDR und nach der Wende.
Gegen Abend machen wir uns auf Standplatzsuche und fahren aus Wismar heraus. An einer Stelle, die ich gut finde, befindet sich ein paar Meter weiter ein Hof und wir beschließen zu fragen, ob wir uns dorthin stellen dürfen.
Am Tor steht „Gemeinschaft Olgashof“ und irgendwas mit Architekturbüro und Steinofenbrot. Klingt schon mal gut! Wir gehen die Auffahrt entlang auf das kreativ dreifarbig gestrichene Haus zu. Auf unser Klopfen reagiert niemand, wir gehen rein und rufen leise. Eine Kinderstimme ruft von oben irgendwo „Papa?“. Wir verneinen. Eine junge Frau mit Trekking-Rucksack kommt herunter und erklärt, dass gerade ein Yoga-Kurs stattfinde und dass wir ja bis neun warten könnten, dann sei der vorbei. Sie sei gerade dabei abzureisen. Wir erklären ihr, worum es geht und sie meint, wir sollen uns einfach vor eins der Tore stellen, da der von uns ausgesuchte Platz nicht zum Hof gehöre.
Das tun wir dann auch.
Anschließend machen wir unseren Abendspaziergang zu einem nahe gelegenen Wald und sehen ca. 30 Kraniche, die sich auf einem Feld versammeln, um dann gemeinsam irgendwohin zu fliegen. Wahrscheinlich ins Nachtlager.
Um halb zehn gehen wir noch einmal zum Haus, aber alles ist ganz ruhig und wir möchten nicht stören.
Unser Wasser neigt sich dem Ende zu. Alles auffüllen (Flaschen, Kanister, Tank) reicht also für ca. 10 Tage. Gut zu wissen!
[D] Einmal, des Nächtens spülte uns der straffe Meereswind an ein Gestade, das Tine bald schon als Gemeinschaft, als Kommune erkennen sollte. Derer, so will es ja die Legende, soll es viele in dieser Gegend geben, was für uns im Falle des wunderbaren Olgashofes die allerschönste Bestätigung erfahren sollte. Dieser Olgashof, der eine eigene Historie aufweisen konnte, die von den Bewohnern auch liebevoll gepflegt wurde, entpuppte sich als Kaleidoskop und Mikrokosmos einer möglichen, uns, mehr noch Tine, vorstellbaren Lebensweise, und bot uns Gelegenheit zur Einkehr für die nächsten Tage nach einem offenen, respektive herzlichen Empfang, einen heimeligen Stellplatz auf einer dem Anwesen angeschlossenen Wiese mit einer itzt kalten Feuerstelle, einem bemoosten Sofa und einem alten nachgerade sterbenden Hängebauchschwein namens Prinz, dessen fürsorgliche Bemutterung Tine sich zur Aufgabe ihres Wirkens auf dem Hof machte. Diese paar Tage ausführlicher zu beschreiben, kann in der Retrospektive nur lückenhaft und ohne ihnen gerecht zu werden geschehen, und obschon ich mich zunächst der Kommunikation zu verweigern suchte, war schnell der Kontakt zu lieben Menschen hergestellt. Darüberhinaus verschwimmen diese paar Tage noch mit den Wismarschen Eindrücken. Ein paar rasante und überaus erholsame, weil ausführliche Tage und Abende. Ein wenig will ich, additiv zu Tines Niederschrift, in bestimmt unangemessener Weise, dieser Erinnerungen mich wieder bemächtigen, denn so etwas wie den Olgashof hat es ja seitdem nicht wieder gegeben.
Tag 10, Freitag, 17.04.2015, sonnig, kalter Wind, Olgashof
[Tine] Während Dominique mit Motte Fahrrad fährt, gehe ich zum Haus rüber, um Bescheid zu geben, wer da vor der Toreinfahrt parkt. Klopfen scheint hier unnütz zu sein, wieder reagiert niemand, eine Klingel gibt es nicht. Also gehe ich hinein und folge dem Geräusch von Stimmen. Beim Näherkommen erkenne ich Wortfetzen. Man unterhält sich hier also über Aufnahmen, Abmischungen und Lautstärkeverhältnisse. Aha. Ich lande in der Tür der Küche, aus der mich zwei Augenpaare freundlich anlächeln. Ich bekomme direkt einen Kaffee angeboten, den ich dankend annehme. Wir stellen uns vor, die beiden sind Karoline und Tomate. Ich erkläre, warum ich eigentlich da bin und dass wir gleich wieder los wollen, um in Wismar Straßenmusik zu machen. Karoline freut sich nen Ast. Ausgerechnet heute ist sie das erste Mal mit einem Kumpel zum Straßenmusik machen in Wismar verabredet. Bestens! Wir verabreden uns für später und Tomate zeigt mir das Hauseigene Tonstudio, in dem er und noch jemand Sounds frickeln. Es kommt mir vor wie ein großer Tanzsaal. Parkettboden und so. Das Equipment schön zusammengewürfelt und funktional angeordnet. Wir hören ein paar Aufnahmen einer Punkband durch und als Karoline dazukommt auch Aufnahmen von Karolines Mittelalter-Style-Band „Satolstelamanderfanz“ . Karoline spielt dort Nykkelharpa (wie schreibt man das?), zu Deutsch, Schlüsselfidel. Richtig gut! Ich geb ein bisschen meinen Senf dazu.
Tomate bietet an, dass wir unseren Michel hinten auf die Wiese stellen können, auf der sowieso schon Bau- und Wohnwagen stehen, und gern ein paar Tage bleiben können.
Er erklärt mir ein bisschen die Gemeinschaft. Viele Handwerker und Künstler, ca. 20 Menschen, inkl. einiger Kids.
Als Dominique mit der Fahrradtour durch ist, ist es auch schon Mittag. Er hat sich verfahren, Motte ist völlig k.o., sehr gut! Ich erzähle ihm alle Neuigkeiten und wir beschließen, das Angebot, einige Tage zu bleiben, anzunehmen.
In Wismar haben wir uns einen guten Parkplatz gemerkt, das ist ja gar nicht so einfach mit dem riesigen Bus. Wir müssen zwar noch 15 Minuten laufen, aber das ist ok.
Wir treffen Karoline und Tyle, ihren Mitmusiker, in der Nähe des Marktplatzes und gesellen uns dazu. Tomate ist auch da und will Aufnahmen machen. Wir verabreden, dass wir jetzt ein paar Stücke spielen und die beiden mit einsteigen. Karoline mit Kontrabass und Bratsche und Tyle mit Klarinette, Akkordeon und Mini-Schlagzeug. Das klappt super und die Leute bleiben auch stehen, das gefällt ihnen scheinbar. Dann wechseln wir uns ab, die beiden spielen ein, zwei Lieder und wir steigen mit ein, danach wieder umgekehrt, usw. Wir haben Spaß. Sonne, Barfußlaufen, wir teilen ein riesiges Eis, wir sind gut drauf.
Von Tyle erfahren wir, dass er aus den USA kommt, durch die Welt reist, meist mit dem Fahrrad, und Akrobatik-Kurse für Kids gibt. Ein radelnder Musikakrobat also. Er war bereits in 55 verschiedenen Ländern und kann von allen die Sprachen so gut, dass er Kurse geben kann. Ich bin beeindruckt.
Später kommt noch Sergej aus der Ukraine dazu. Da ist Karoline aber schon weg, sie muss die Olgashof-Kids vom Hort abholen. Sergej spielt ukrainische Volkslieder auf der Gitarre. Er merkt schon nach zwei Stücken, dass der Säge mehr die getragenen Stücke liegen und spielt vor allem solche. Richtig schön. Wir finden uns alle toll rein. Sergejs Sohn sitzt dabei und erklärt den Leuten hin und wieder, wo sie ihr Geld reinzuwerfen haben. Und er ärgert sich, dass die Leute seinen Namen immer falsch verstehen. Elgar. Nicht Elmar. Und auch nicht Edgar! Ist doch nicht so schwer! Menno!
Zurück in Olgashof platzieren wir den Michel gut auf dem Gelände. Unser erster richtig „legaler“ Stellplatz seit Tagen. Wir fühlen uns sehr sicher hier, was uns zeigt, dass wir uns an den anderen Plätzen ganz offensichtlich, wenn auch nicht ganz bewusst, unsicher fühlten.
Wir füllen unser Wasser auf und sind auch diesbezüglich beruhigt.
Abends habe ich noch eine Aufnahme-Session mit Tomate. Dominique ist zu müde, hat keinen Nerv auf Menschen. Er bleibt im Michel und schläft ein.
Ich spiele mehrere Spuren ein. Es geht darum, ein Bassloop-Stück zu bereichern. Ich versuche mich einzufühlen und finde aber, dass das Stück eigentlich schon stimmungsvoll genug ist. Also mache ich nur sehr wenig. Tomate nimmt die Spuren einfach und lässt sie gleichzeitig abspielen. Schön schräg. Mir gefällt das.
Als ich zum Bus zurückkomme, steht Dominique geschnürt und gestriegelt im Bus, will gerade los, um mich zu suchen. Er hat sich Sorgen gemacht, schließlich sind wir hier im wilden, wilden Osten!
Hier übrigens der Link zum Olgashof: http://www.gemeinschaft-olgashof.de/
[D] Wie nicht anders zu erwarten, hatten wir mit den Musikern auf dem Olgashof hauptsächlich zu tun, ich eigentlich ausschließlich, Tine auch mit anderen, namentlich einem Greis im Rollstuhl, mit schlohweißem Haar und einer charismatischen, warmen und angenehmen Stimme. Ein Meeresbiologe war er, den weiland eine beiläufige Entscheidung nach Indien geführt hatte, dessen Reiz er für sein ganzes Leben erlegen war. Die religiöse Philosophie des Tantra hatte den Alten tief durchdrungen. Ein Unikum war dieser Mann und eine beeindruckende Persönlichkeit. Ihn durfte auch ich erleben als ich staunend und tief eingenommen in der olgashofschen Bibliothek weilte, vor mir Regale, die bis zur hohen Decke mit nach einem ausgeklügelten System sortierten Büchern bestückt waren, sogar eine recht ausführliche Reclam-Ecke war zu erkunden und konnte mich nachgerade für diesen erstaunlichen Ort einnehmen. Neben einem mit Ertüchtigung, Rekonvaleszenz und stiller Einkehr gefüllten Tag und einer Radtour mit Motte durch einen im Tun sich scheinbar endlos weitenden Waldstück, war da der Abend mit dem grandiosen Tomate in seinem Tanzsaal (mit Parkett), der ihm als Studio diente. Mit ihm konnten wir uns nicht nur aber auch und vor allem auf Klangebene bestens verständigen.
Tag 11, 18.04.2015, Samstag, Sonne, Olgashof
[Tine] Auf der Fahrt ist uns wohl die Auspuffaufhängung zerbröselt, wir improvisieren das und fahren wieder nach Wismar. Straßenmusik läuft nicht ganz so gut wie gestern mit der großen Truppe, aber wir sind trotzdem zufrieden.
Als wir auf dem Rückweg zum Bus sind, kommen wir an Dreharbeiten zu „Soko Wismar“ vorbei, nicht so spannend wie ich gedacht hätte. Ein Ecklädchen ist zum Teil wohl als Blumenladen hergerichtet. Darin kann man nicht viel erkennen. Kameraleute, Scheinwerfer, draußen so etwas wie Ordner. Komm ich getz im Fernsehn? Egal.
Wir entdecken, dass das Streuglas unseres linken Scheinwerfers kaputt ist. Da wir Motte samt ihrem Stock kurz zuvor dort angebunden hatten, nehmen wir an, dass sie im wilden Spiel den Sock in das Glas gerammt hat. Naja, wir sind ja eh unterwegs zu den Busmaniacs, die haben sicher Ersatz für uns.
Abends tauschen wir Musik mit Tomate aus, lernen Zwetschge ganz kurz kennen, die mit einigen Kids am Lagerfeuer sitzt und Ricardo, der gerade mit Tomate die Aufnahmen seiner Punkband „Martin-Hagedorn-Band“ durchgeht.
Weniger Zucker zu essen, funktioniert übrigens super.
Die Sonne verändert unsere Haut, vielleicht auch die Seeluft, wer weiß.
[D] (Noch ein Wort zur selektierenden Wahrnehmung, die im Vergleich von Tines und meinen Aufzeichnungen, teilweise doch etwas verdeutlicht. Eklatante Unterschiede oder auch Ungereimtheiten nämlich. Erinnerungen, die mit der subjektiven, selektierenden Wahrnehmung nicht zu verwechseln sind. Letzterer gilt es den Altar zu errichten, auf dem das Empfinden und die Ahndung üppig ruhen, indes ein jeder sich an seine Wahrheit hält, die sein Leben in die zur Schale gewölbte Hand der Geschichte legt und darin, im Weiher aller Wahrheiten, in einem Teich aus sternenlichternem Tränensubstrat, vermischen sich alle Geschichten zur Vergangenheit unseres Geschlechts und bilden damit den Grund auf dem wir fußen und der uns leben und wirken lässt.)
Tag 12, 19.04.2015, Sonntag, Sonne, Olgashof
[Tine] Heute hat Dominique Sport- und Songschreibtag. Eine Motte-Fahrradtour am Morgen, mittags Training mit Klimmzügen und so, dann ne Runde laufen.
In der Zeit lüfte ich mal den Wagen ordentlich durch, hänge Bettwäsche raus, organisiere das Chaos im engen Raum, mache sauber und leiste dem Hängebauchschwein „Prinz“ Gesellschaft, das meine Anwesenheit scheinbar klasse findet.
Nachmittags bekomme ich eine kleine Hausführung von Stefan, zumindest im Erdgeschoss. Stefan sitzt im Rolli, ist Meeresbiologe und weiß allerhand über die Geschichte des Hauses, über Plastik im Meer, über Indien, Bhagwan und die Lehren des Tantra. Wer mehr über Stefan wissen möchte, kann gerne mal hier nachschauen. www.mein-abenteuer-mein-leben75.blogspot.de
Später gibt es draußen Kaffee mit einigen Bewohnern und Besuchern. Währenddessen sitzt Dominique im Gras an Michels rechtes Vorderrad gelehnt, und schreibt ein Lied.
Meeresstrand (Theodor Storm)
Ans Haff nun fliegt die Möwe,
Und Dämmerung bricht herein;
Über die feuchten Watten
Spiegelt der Abendschein.
Graues Geflügel huschet
Neben dem Wasser her;
Wie Träume liegen die Inseln
Im Nebel auf dem Meer.
Ich höre des gärenden Schlammes
Geheimnisvollen Ton,
Einsames Vogelrufen –
So war es immer schon.
Noch einmal schauert leise
Und schweiget dann der Wind;
Vernehmlich werden die Stimmen,
Die über der Tiefe sind.
Übrigens: Waldmeisterwasser ist lecker!
Der Abendspaziergang beschert uns einen tollen Sonnenuntergang und wieder Kranichbegegnungen.
Danach gehen wir wieder zu Tomate ins Studio, um noch mehr Musik und auch Infos auszutauschen. Jetzt erfahren wir auch noch mehr über die Gemeinschaft, wie das Ganze hier so aufgebaut ist, sowohl finanziell, als auch organisatorisch. Auch das Zwischenmenschliche ist ja spannend, aber da gibt Tomate natürlich nicht so viel preis.
Nach knapp zwei Wochen reisen merken wir, dass wir eigentlich gar keine Lust auf Städte haben, dass die Natur süchtig macht und dass wir heute den ersten Tag haben, der ohne Druck und Verpflichtung abläuft. Kein „Wir müssen noch dies und jenes besorgen!“ , „Wir müssen einen anderen Stellplatz suchen!“, „Wir müssen weiterfahren!“ oder „Wir müssen Straßenmusik machen!“.
Heute hat einfach jeder das gemacht, was er/sie wollte und es war gut so.
Morgen geht es dann weiter nach Ankershagen, ein bisschen Michel-Pflege betreiben.
Das Zucker-Experiment läuft weiter.
[D] Olgashof lag traulich summend in dieser Moränenlandschaft in Nordwestmecklenburg, hier sich Erdschichten über Millionen von Jahren ruhig umarmt, gedrückt und geschoben haben wie sehr alte, sehr geduldige Ringer. Darauf knorriges Holz, derbe im Clinch mit dem salzigen Wind und abwechselndes heidiges Grasland und wieder Acker. Nur eine, meist einspurige nach deutschen Maßstäben notdürftig geflickschusterte Straße, die hinführte zu winzigen Dörflein, die wie an einer Perlenschnur aufgereiht an ihr selbst verharrten. Hier war meine Frau vom tiefen Eindruck beseelt, verbleiben zu können und die Gegend als auch die Menschen reichten ihr hierzu die Hand. – Mein eigenes Wohlgefühl täuschte mich aber nicht darüber hinweg, dass wir unsteten Wesen weitermussten, denn trotz allem erschien mir dieses NWM zu domestiziert und mein sehnendes Innerstes hatte noch nicht die Schwingung erfahren, die es sich von der Eigenartigkeit urwüchsiger Natur erhoffte. Also empfand ich indes mein Gemüt von Unruhe und Rastlosigkeit durchwirkt, dass mir ganz klar wurde, es musste weitergehen. Wismar halte ich nun auch und außerdem in meinem Herzen fest. Eine reiche und selbstbewusste Stadt, durch die tiefe Entspannung des Herzens und eine sich in der Architektur widerspiegelnde, altehrwürdige Anmut geadelt, ist das. Ein kleiner funkelnder Diamant hierin war ein antiquarischer Buchladen „Schusterjunge“, geführt von einer traditionsbewussten Frau, wo ich einige Schätze heben konnte. In diesem vor Bücher starrenden Raum wurde mein klassisch sensibilisiertes Ohr mit sanftem, melancholischem Jazz von Bugge Wesseltoft verwöhnt, während ich stöberte in alten DDR Ausgaben des Aufbau Verlages zum Beispiel; besonders anzuempfehlen ist die Hesse Biografie von Fritz Böttger, ganz mit deutschdemokratischem Denken und Herzen verfasst. Ein Kuriosum deutsch deutscher Geschichte. – – Dann verließen wir, wehmütig Abschied nehmend diese an Gefühlen, Erlebnissen und Menschen, Stadt und Natur reichen Etappe unserer Reise, diese Gestade. Verließen Olgashof schwanger an Eindrücken und reich und bekamen doch endlich wieder Straße unter die Räder.- – Ankershagen sollte es nun sein. Dort würden wir unseren Mechaniker Jörg von den Busmaniacs kennenlernen, der Michel sollte reisetauglich(er) gemacht und hierfür ein wenig verwöhnt und verarztet werden usw. Darüberhinaus sollte mir dort ein Stück Heimatgefühls ins Herz brummen, das ich da so noch gar nicht erwartet hatte. Ankershagen, Heimat des Archäologen Schliemann – mon amour.
Tag 13, Montag, 20.04.2015, Sonne
[Tine] Nach einem herzlichen Abschied von Tomate und Karoline und ein paar Reisetipps von Zwetschge brechen wir auf. Die Fahrt verläuft gut, die Landschaft verändert sich nicht wesentlich, nur die Seen werden größer und es gibt etwas mehr Wald.
Wir kommen kurz vor Feierabend bei den Busmaniacs in Ankershagen an. Wir werden freundlich aufgenommen und machen erst mal unseren Abendspaziergang. Hier gibt es einen Park, dahinter einen Wald. Als wir durch den Wald einem Wanderweg folgen, kommen wir zum Mühlensee. Hier hören wir keine Menschengeräusche mehr. Nur noch Vögel, Blätterrauschen und unseren eigenen Atem. Und natürlich Motte, die wie immer zu laut in der Leine hängt. Wir haben schon mit vielen Methoden versucht, ihr das Ziehen abzugewöhnen, aber wir sind wohl zu inkonsequent. Schwieriges Thema. Und wenn wir in der Dämmerung im Wald sind, ist sie so dermaßen im Jagdfieber, dass sie nicht zu beruhigen ist.
An dem See ist eine Art Beobachtungshütte, die über dem Wasser steht. Diese Hütte wird „Entenschnapper“ genannt, weil sich darunter Fische aufhalten, die man Entenschnapper nennt. Waren es Karpfen? Ich weiß nicht mehr. Dort setzen wir uns einen Moment, leinen Motte auf einer der Bänke sitzend an, so kann sie über das Geländer gucken. Und siehe da. Sie beruhigt sich. Ein wenig abgeschottet von den Waldgerüchen, sich bewusst sein, dass wir hier jetzt einen Moment bleiben, geht sie auf Beobachtungsmodus über. Den Kopf gereckt, die Pommestüten-Ohren aufmerksam gespitzt, entgeht ihr wahrscheinlich nicht das geringste Fröschlein am anderen Ufer. Hier soll es laut Infotafel unter anderem Fisch- und Seeadler geben. Ich bin beeindruckt. Auf dem Rückweg sammeln wir Vogelmiere, Gundermann, Sauerklee und Knoblauchrauke und sehen zwei Mal eine Rohrweihe aus dem Schilf im Park auffliegen.
Zum Abendessen gibt es Salat mit frisch gesammelten Kräutern.
Tag 14, 21.04.2015, Dienstag, Ankershagen, Sonne
[Tine] Wir können hier unsere Wäsche waschen und in der Sonne trocknet sie schnell. Super!
Bei unserem Morgenspaziergang finden wir am Waldrand einen kleinen Raubtierschädel, wahrscheinlich von einem Fuchs. Er ist noch völlig intakt, sogar die Zähne sind fast alle da. Ich nehme ihn zur näheren Bestimmung mit.
Die Maniacs sind sehr nett, Jörg, der für uns zuständig ist, ist ein offener, herzlicher Mensch. Er zeigt uns den Hof und versorgt uns mit den nötigen Ersatzteilen.
Die Busmaniacs haben eine Werkstatt, die sich auf Mercedes Transporter spezialisiert hat. Auch gibt es hier die Möglichkeit, als Selbstschrauber die Grube zu nutzen und allerhand Werkzeuge. Ich finde das superpraktisch, denn jeder, der schon mal an einem solchen Bus rumgewerkelt hat, kennt das. Man denkt, man hat alle Teile beisammen und beim Schrauben und Machen und Tun geht irgendwas anderes kaputt oder es fällt etwas auf, das man noch ersetzen sollte, bevor man alles wieder zusammenbaut. Eine spezielle Aufhängung, eine Lagerung, irgendwas. Und dann ist es doch echt praktisch, direkt an der Ersatzteilquelle zu sitzen und nicht erst auf eine Lieferung warten zu müssen.
Wir trödeln ziemlich, Dominique geht erst noch Laufen und schreibt ein Lied um („Der Leiermann“ von Franz Schubert in der Version von Liszt in der Bearbeitung von Hannes Wader), …
Der Leiermann (Franz Schubert)
Drüben hinterm Dorfe
Steht ein Leiermann
Und mit starren Fingern
Dreht er was er kann.
Barfuß auf dem Eise
Wankt er hin und her
Und sein kleiner Teller
Bleibt ihm immer leer.
Keiner mag ihn hören,
Keiner sieht ihn an,
Und die Hunde knurren
Um den alten Mann.
Und er lässt es gehen,
Alles wie es will,
Dreht und seine Leier
Steht ihm nimmer still.
Wunderlicher Alter,
Soll ich mit dir geh’n?
Willst du zu meinen Liedern
Deine Leier dreh’n?
… ich quatsch mit Leuten, schau mir die Halle und die anderen Busse an und so brauchen wir einige Stunden für alles. Zum Schluss haben wir ein neues (gebrauchtes) Kombiinstrument (das Teil mit Tank-, Öldruck- und Wassertemperaturanzeige), eine neue Endrohraufhängung und ein neues Scheinwerferglas.
Bei der Probefahrt mit dem neuen Kombiinstrument sehen wir viele Kraniche. Obwohl sie für uns inzwischen zur Landschaft gehören, ist es immer wieder toll, die großen, edlen Tiere zu beobachten.
Außerdem gibt es hier ein Schliemann-Museum. Der berühmte Archäologe kam wohl von hier.
Spätnachmittags setzen wir noch eine 10 bis 15km Fahrradtour an. Wir sehen Hügelgräber und den Bornsee, einen Fischadler(!!!), die Havelquelle (, die eigentlich gar keine ist) und ich überfahre versehentlich eine kleine grüne Schlange, die ich – auch später mit Hilfe des Internets – nicht bestimmen kann.
Komisch, mein Vorderrad hat eine Acht und das Tretlager knackt.
Notiz an mich: Dominique nicht mehr das Fahrrad leihen!
Abends gehen wir baden. Ahhhh!
Wir fühlen uns wie Cowboys, die nach einem langen Ritt durch die staubige Prärie nach Hause kommen und sich im Badezuber mit ner Zigarre in der einen Hand, einer Flasche Whiskey in der anderen den Rücken schrubben lassen. So sah das Wasser dann auch aus.
Danach mit Futter ab ins Bett, „Troja“ gucken – wegen Schliemann.
Tag 15, 22.04.2015, Ankershagen, Mittwoch
[Tine] Nachdem sich der Himmel zuzieht, beschließen wir, unseren Plan, eine ausgiebige Radtour zu machen, umzuwerfen und schon heute nach Polen zu fahren. Wir diskutieren über ausgebreiteten Karten und Atlanten, wo wir unser nächstes Ziel stecken sollen. Die Küste soll es sein, wegen der Touristen und der Straßenmusik – auch, wenn das nicht auf unserer Route nach Breslau liegt, wo wir ja in zwei Wochen ein Konzert geben. Aber zwei Wochen sind eine lange Zeit und Danzig scheint ein geeigneter Ort zu sein, zumindest so wie wir uns das vorstellen. Also schnell noch Flusi anrufen, der sich in dem ganzen Jahr um unsere Post kümmert, Dinge erledigen und meine Familie anrufen solange wir noch mit unseren Handys günstig telefonieren können.
Wie wir das in Zukunft halten werden – Telefonieren und Internet – wir wissen es nicht und lassen das mal auf uns zukommen.
Und dann … auf nach Polen. Tschüss Jörg, tschüss Ankershagen, tschüss Mecklenburger Seenplatte, tschüss Deutschland.
[D] Hie und da werfen die unzähligen Seen ihr jubilierendes Blau in den weißgetünchten Himmel. Verschilftes Ufer gelb und grün im hellen Morgenlicht. Der Havelquelle folgen wir ihrem Flusse treu hinein in den Märchenzauberwald, schauen hoch zu den uralten Baumriesen, werden gleichsam klein und jünger und sind wieder Kinder, rasten an versteckten Hügelgräbern und süß plätschernden Bächlein, stecken unsere neugierigen Forscherhäupter ins moosige Unterholz, schieben den Goldklee und den Sauerklee und die Knoblauchrauke beiseite und bestaunen ehrfurchtsvoll einen bemoosten, schönen Raubtierschädel, schrecken hoch, eines Huschens gewahr werdend, verfolgen schnurstracks die smaragdgrüne Schlange, die zischt und hingleitet und, ach, wir verlieren sie doch ins Geheimnisvolle, dahin, dahin. Die hohen Buchen umstehen uns und in ihrem Schatten summt und brummt und singt es und macht ah und oh und schweigt verdächtig oder wirft sich jedenfalls mächtig ins Zeug. Wir Kinder rennen lachend den Hummeln hinterher, betasten die Trittsiegel des Rotwilds, erschauern im Gebräch und an den Malbäumen des Schwarzwilds. Wir selber sind ja ganz und gar verzaubert und ein ganz kleines bisschen furchtsam in diesem vielstöckigen, urähnlichen Wald, alsgleich der Tod, das Sterben auch, in einer prachtvollen Schau uns bildhaft, gleichnishaft vor das Antlitz tritt, dunkelmoosigweich, verführerisch pilzig und nach zersetztem Holz duftend, Schicht um Schicht den organischen Grund bildend, lebend – ja doch, ein einziger Organismus wie das Meer und wie wir in ihm als er. Oh, und schaurig wird’s mit dem Tiefstand der Sonne in den jungen Seelen, denn wir haben ja die Geschichte gehört vom Bradenkierl, vom fiesen Heinrich Holstein, der den armen Kuhhirten mit dem Fuße ins Feuer gestoßen hat und dessen verfluchter Fuß nach seinem Tod immer aus der Erde ragt, ganz gleich wie oft man ihn vergräbt. Sollen sie ihn zuletzt zwar abgeschnitten haben und unter den Altar gebracht, so können wir jetzt jedoch nicht sicher sein, denn da ist er ja, da steht er hinter der Buche da, der grausame kalte Fuß bei der verkrüppelten uralten Birke, rot blitzt das Blut, weißlich das Gebein, da kömmt er durch die tausendfach ineinander verschlungenen Wurzelgebilde und – , nein, es ist ein Fuchs. Puh! – Dicke warme Strahlen goldenen Sonnenlichts werfen in trauten Bahnen kreisrunde Oasen in das struppige verfilzte Gehölz, da tummeln sich die vielgestaltigen Brummer und summenden Insekten und die Singvögel stehlen sich in unsere Herzen und ich will sie alle kennenlernen, das Blaukehlchen will ich kennenlernen und die Grasmücke, den Star, den Fink, die Bachstelze, den Haussperling, die Singdrossel, die Kohlmeise und auch den Eichelhäher, die Wasseramsel und alle die da immer sind in diesem wahrhaftigen Wald. Dann schauen wir auf den stillen Mühlsee und ruhen aus, er füllt uns mit seiner sanften Kühle, jetzt gleich halten wir uns an den Händen ganz fest und dann geben wir uns ein Küsschen und gegenüber neigen sich indes die hohen Föhren in den See und der Himmel ist offen über uns und dem blanken See und da steht ja der Mond schon da und die Sonne auch, genau und ganz zur gleichen Zeit. Das ist alles so richtig schön für uns und bestimmt auch für die ganze Welt. – – Wir müssen scheiden und scheiden tut weh, wir wollen ins Kaschubische, gen Polen also, jetzt Deutschland verlassen, hinein in ein ganz neues Abenteuer. Doch noch für einen letzten Morgen wird uns Ostdeutschland, Mecklenburg, sein wundervolles Angesicht entgegenhalten: Seen, Wälder, Moränen über denen Kraniche trompeten, genug und viel Raum für Mensch und Tier. Aber jetzt noch hier im Wald im wundervollen Havelland, da schmiegen wir uns fest und vertrauensvoll an die Brust und betten uns in den lebendigen Schoß des natürlichen Gottes für eine letzte Nacht. Wir träumen.
(IHR HABT SICHERLICH GEMERKT, DASS ES EWIG GEDAUERT HAT, BIS WIR DEN BLOGEINTRAG ÜBER DEUTSCHLAND HOCHGELADEN HABEN. WIR WERDEN UNSERE ZEIT AUCH IN ZUKUNFT EHER MIT (ER)LEBEN VERBRINGEN UND WENIGER MIT COMPUTER UND ABTIPPEN UND INTERNETSUCHE, SCHREIBEN ABER NATÜRLICH FLEISSIG WEITER. WIR HOFFEN ABER, EUCH MACHT DER BLOG SPASS, AUCH WENN ER NICHT GANZ AKTUELL IST. )